"Ich habe eine anderthalbjährige Pflegehölle (noch vor der Einführung des Pflegegeldes, also ohne jegliche Unterstützung) hinter mir", schreibt eine wize.life-Nutzerin, die sich um ihre Mutter gekümmert hat. Eine "Hölle" sei es deshalb gewesen, weil sie sich allein gelassen gefühlt habe mit der Situation und völlig überfordert gewesen sei. Ihre gesamte Zuneigung und Liebe gegenüber der "aggressiven und aufbegehrenden Mutter" sei von der "täglichen hässlichen Routine" verbraucht worden.
Belastend - aber auch eine wertvolle Zeit
Wir hatten die wize.life-Community nach Erfahrungen mit der Pflege von Angehörigen gefragt, und es war beeindruckend zu lesen, wie viele User und Userinnen sich um einen oder sogar mehrere Angehörige kümmern oder gekümmert haben – teils über etliche Jahre hinweg. Sie berichten von Schwierigkeiten, Zuschüsse zu erhalten, von finanziellen Einbußen und psychischen Belastungen. Ungeachtet dessen heben einige die wertvolle Zeit mit dem geliebten Menschen hervor, andere leiden oder litten erheblich darunter.
"Die schlimmsten 16 Monate meines Lebens"
Über Details will sie nicht berichten, doch eine Nutzerin schreibt: "Es waren für mich als junge Frau die schlimmsten 16 Monate meines Lebens und ich wünsche diese Situation meinem schlimmsten Feind nicht."
Pflege trotz Schikane
Doch sie ist nicht die einzige Userin, die bei der Pflege über ihre Grenzen hinaus gegangen ist. Eine andere etwa berichtet davon, dass sie von ihren Eltern schon als Kind übel behandelt worden sei. Und dennoch übernahm sie die Pflege ihrer Mutter – und wird noch heute von ihr schikaniert. Sie hat eine Tante, die nach der Pflege lebensmüde geworden war - und lange brauchte, um sich zu erholen.
Warum tun sich Menschen dies an? Warum greift der Selbstschutz nicht rechtzeitig?
Pflichtbewusstsein, Scham, schlechtes Gewissen
"Es gab kein Entrinnen, gefangen vom eigenen Pflichtbewusstsein ("Sie ist schließlich deine Mutter!") und dem Versprechen, sie nicht in ein Heim zu geben", so formuliert es die Nutzerin. Andere berichten von der Scham und dem schlechten Gewissen, von außen Hilfe anzunehmen.
Doch warum ist das Pflichtbewusstsein so groß, dass es den Selbstschutz offensichtlich aushebelt?
Viele pflegen bis zu Selbstaufgabe
Der Pflege bis zur Selbstaufgabe begegnet Imke Wolf immer wieder. Sie ist Leiterin eines Teams von fünf Psychologinnen, die auf dem Portal "pflegen-und-leben.de" kostenfrei online und via Videochat psychologische Beratung für Pflegende anbieten.
Komplexe Mutter-Tochter-Beziehung
Nach ihrer Erfahrung neigen besonders Töchter dazu, die eigene Mutter geradezu aufopfernd zu pflegen. "Das hat viel damit zu tun, dass die Beziehung von Mutter und erwachsener Tochter besonders eng ist – egal ob sie wollen oder nicht", sagt sie. "Dazu kommt, dass Töchter, die heute ihre alten Mütter pflegen, oft noch in einer Generation aufgewachsen sind, in denen die pflegende Rolle klar den Frauen zugewiesen war." Teilweise seien Mädchen auch als weniger wert erachtet worden als Jungen.
Erwartung der Mutter genüge leisten
Wenn dann die Erwartungshaltung der Mütter laute: ,Du hast mich zu pflegen', "können sie nicht anders, als für ihre Mütter da zu sein", erläutert Imke Wolf – zumindest sofern kein Abnabelungsprozess stattgefunden habe.
Schuldgefühle aus der Kindheit
Hinter diesem Verhalten stehen ihr zufolge häufig unbewusste Schuldgefühle, die noch aus der Kindheit resultierten. "Schon als Kind haben sie nicht die bedingungslose Liebe ihrer Mutter bekommen und deshalb Schuld empfunden", erklärt sie.
Denn Kinder fühlten sich verantwortlich dafür, dass ihre Eltern zufrieden sind. "Das Gefühl, Mama ist böse mit mir, schlägt tiefe Wunden. Und diese Wunden tragen pflegende Erwachsene noch immer mit sich." Unbewusst versuchten sie, der Mutter zu genügen und sie glücklich zu machen. Das liege aber nicht in ihrem Verantwortungsbereich – und sei auch kaum möglich.
"Es ist in Ordnung, die Mutter zu enttäuschen"
"Die Kinder wollen, dass die Mutter sich ändert und dankbar ist oder sich freut. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein Mensch in dem Alter noch ändert?", fragt Imke Wolf. Sie betont, dass es dabei nicht um Schuldzuweisungen an die Mutter gehe. "Sie hat ihre eigene Geschichte, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist. Wichtig ist, dafür Verständnis aufzubauen und sich gleichzeitig zu erlauben, sich abzugrenzen. Es ist in Ordnung, die Mutter zu enttäuschen."
"Priorität liegt auf der eigenen Versorgung"
Doch wo verläuft die Grenze? Wie viel will oder sollte man tolerieren und ab wann die eigenen Belange in den Vordergrund stellen? Eine schwierige Frage, die letztlich jeder selbst für sich beantworten muss. Imke Wolf führt als Orientierung das Bild der Sauerstoffmaske in Flugzeugen an: Erst muss man sie selbst aufziehen, um dann anderen helfen zu können. "Das ist in der Pflege genauso. Die Priorität liegt auf der eigenen Versorgung." Klienten und Klientinnen, die sich verausgaben, frage sie oft: Wie lange können Sie das denn durchhalten? Was, wenn es noch fünf Jahre weiter geht?
Tipp 1: Netzwerk aufbauen
Grundsätzlich gelte: Die Pflege eines Menschen kann niemand alleine stemmen. Wichtig ist, ein Netzwerk an Unterstützung aufzubauen. "Je nach Bedürfnissen des Pflegebedürftigen kann dieses ambulante Pflegekräfte, die Familie oder eine dauerhafte Helferin aus dem Ausland mit einbeziehen", sagt Wolf.
Tipp 2: Wichtige Fragen vorher regeln
Vorbeugend rät sie zudem, frühzeitig eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht auszufüllen. "Es gibt viel Sicherheit, wenn man weiß, was sich der andere wünscht, wenn man plötzlich vor der Entscheidung steht."
Lesen Sie auch:
Einkommensrisiko Pflege - Frauen trifft es besonders hart
Demenz bringt Zusatzbelastung
Eine zusätzliche Belastung entsteht, wenn die pflegebedürftigen Menschen demenzkrank sind. Zig Mal dasselbe hintereinander gefragt zu werden, kann aggressiv machen, wie es auch wize.life-User schildern. Noch schlimmer wird es, wenn die Betroffenen - je nach Demenzerkrankung - auch noch aggressiv werden.
Demenzkranke brauchen anderen Umgang
"Die Hülle bleibt, aber die Person dahinter verändert sich. Das ist für Angehörige äußerst schmerzhaft und schwer zu verstehen", sagt die Psychologin. Sie rät, sich eingehend mit dem Krankheitsbild zu beschäftigen und sich bewusst zu machen, dass der Demenzkranke nicht anders handeln kann. "Entsprechend muss man den Umgang mit dem Erkrankten ändern." Das fängt bei der eigenen Erwartungshaltung an: Auf die fünfte wiederholte Frage gereizt zu reagieren, weil der andere die Antwort schon wieder vergessen hat, sei zwar menschlich, bringe aber beiden Seiten nichts.
Wie viel tolerieren?
Genauso sei es wenig hilfreich, auf Aggression mit Aggression zu reagieren, sagt Imke Wolf. "Es gibt Wege, mit dem anderen wertschätzend zu sprechen." Stichwort: Integrative Validation, eine spezielle Form der gewaltfreien Kommunikation. Gleichzeitig gelte auch hier, sich klar zu machen, wie viel man gewillt ist zu tolerieren – und ab wann die Pflege abgegeben werden sollte.
Pflegeheim bedeutet nicht abschieben
Der Schritt fällt vielen Menschen schwer. Dabei sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Entscheidung, die Pflege abzugeben, mitnichten einem "Abschieben" gleichkommen muss. Wie im Falle einer weiteren wize.life-Userin: Sie und ihr Bruder hatten den dementen Vater schließlich in ein Pflegeheim gegeben, da sie die Pflege mit ihrer Arbeit nicht vereinbaren konnten.
"Mein Bruder und ich sind so oft wie es geht bei ihm", erzählt sie. Es sei nicht einfach zu sehen, dass ein geliebter Mensch so abbaut und vergisst. Sie halte alles auf Bildern fest, um es ihm zu zeigen. "Denn nur der Moment zählt, wenn ich sein Lachen sehe und er glücklich ist."
10 Kommentare