Die Ausbreitung des Coronavirus übertrifft selbst die Vorstellungskraft von Experten, die sich seit Jahren und Tag für Tag mit Infektionen beschäftigen.
Experten erwarten starken Anstieg bei Infizierten
"Wir sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können", sagte am Freitag (20. März 2020) Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) - der Bundesbehörde zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten.
Deutschland stehen dramatische Wochen bevor, machte der Mikrobiologie-Professor klar - "wir werden viel mehr Infizierte haben", sagte Wieler am Freitag auf seiner täglichen Pressekonferenz.
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Und auch mehr Schwerkranke, die wegen Covid-19 in die Notaufnahme und beatmet werden müssen.
Gesundheitsämter und Krankenhäuser in ganz Deutschland sind im Krisenmodus. RKI-Chef Wieler hatte an die Kliniken seit Wochen appelliert, vorbereitet zu sein.
"Wird uns an Grenzen unseres Gesundheitssystems bringen"
"Was auf uns zukommt, wird uns an die Grenzen unseres Gesundheitssystems bringen", sagt ein Münchner Arzt, der namentlich nicht genannt werden möchte.
Wenn man sich unter niedergelassenen Medizinern und Krankenhausärzten umhört, bekommt man immer wieder zu hören: Einiges läuft nicht so rund wie es angesichts des dramatisch grassierenden Virus müsste.
Zu wenig Schutzausrüstung
Stichwort: Schutzausrüstung.
So gut wie alle niedergelassenen Ärzte (80 Prozent) klagen über fehlende Schutzkleidung. Das hat kürzlich eine Umfrage des Ärztenachrichtendienstes (änd) ergeben.
"Wir versuchen seit Wochen verzweifelt, irgendwo auf der Welt Schutzausrüstung zu kaufen, das ist fast nicht möglich", hatte Walter Plassmann, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung dem Blatt gesagt.
"Wenn uns die Schutzausrüstung ausgeht, sind wir am Ende"
Jedem müsse klar sein, so Plassmann: "Wenn uns die Schutzausrüstung ausgeht, sind wir am Ende."
Die Bundesregierung habe versprochen, dass das für die Versorgung Infizierter so dringend benötigte Material auf dem Weg sei.
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"Da ist nichts gekommen. Nicht eine einzige Maske haben wir gekriegt", sagte Plassmann.
Dabei müssten diejenigen, die mit Infizierten zu tun haben "besonders geschützt werden", so RKI-Chef Wieler.
Ärzte sollen Schutzmasken recyceln
Zu wenig Gesichtsmasken, Mundschutz und Schutzkleidung - darüber klagen nicht nur Ärzte in ihren Praxen und in Kliniken. Sondern auch Mediziner in Gesundheitsämtern, die ebenfalls Abstriche bei Menschen vornehmen, bei denen es einen Verdacht auf eine Infektion gibt.
"Weil es nicht ausreichend Schutzkleidung gibt, wurden wir aufgefordert, das, was wir haben, zu recyceln", berichtet eine Ärztin aus Bayern, die im Gesundheitsamt einer mittelgroßen Stadt arbeitet.
Bedeutet konkret: Masken und Kleidung mehrmals zu verwenden. Zu normalen Zeiten aus hygienischen Gründen undenkbar.
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"Bei Schutzbrillen mag das ja noch funktionieren", sagt die Ärztin. "Aber beim Mundschutz wird es schwierig."
Von einigen Intensivstationen wird berichtet, dass Ärzte ihre Spezial-Atemschutzmasken nach dem Gebrauch zum Trocknen aufhängen müssen. Und sie dann wieder verwenden.
Vorwürfe an Gesundheitsministerium
All das müsste nicht sein. Wenn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn frühzeitig reagiert hätte.
Das zumindest glaubt Achim Theile, Chef des Unternehmens Franz Mensch, das Hygienebekleidung, Mundschutz und Atemschutzmasken für Krankenhäuser und Ärzte herstellt und vertreibt - und der dem Bundesgesundheitsministerium schwere Versäumnisse vorwirft.
Bereits Anfang Februar habe er Spahn per E-Mail gewarnt, dass es in Kürze in Krankenhäusern zu bedenklichen Engpässen bei der Versorgung mit Schutzmasken kommen werde, sagte Theiler dem "Spiegel".
"Keiner hat uns gehört"
"Wir haben gemahnt, und keiner hat uns gehört“, sagte Theiler dem Nachrichtenmagazin. Dennoch seien die Behörden seit Wochen untätig geblieben. "Das ist grob fahrlässig und verschärft die Krise unnötig."
Auch an anderen Stellen hapert es nach Ansicht von Medizinern gewaltig.
"Wir gehen davon aus, dass auch wir spätestens Anfang kommender Woche eine große Zahl Corona-Patientin aufnehmen und versorgen müssen", sagt ein Urologe, der in einer bayerischen Spezial-Klinik arbeitet.
Eine Notaufnahme gibt es hier nicht. Nicht zu normalen Zeiten. Doch diese sind alles andere als das.
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"Bald werden vermutlich auch Ärzte anderer Fachbereiche herangezogen, sagt er. Also nicht nur Narkoseärzte, die auch als Intensivmediziner ausgebildet sind.
Sondern auch Gynäkologen, Chirurgen, Orthopäden.
"Wir wollen alle mithelfen"
Aus Gesprächen mit Kollegen weiß er: "Wir alle wollen mithelfen - jeder will alles dafür tun, die Krise in den Griff zu bekommen."
Was die Ärzte jedoch frustriert, ist das aus ihrer Sicht mitunter zögerliche und unzureichende Krisenmanagement der Klinikleitung.
"Viel zu lange haben wir noch elektive Operationen durchgeführt", sagt ein anderer Klinikarzt. Das sind chirurgische Eingriffe, die nicht dringend nötig sind. Und verschoben werden könnten.
Auch RKI-Chef Lothar Wieler hatte bereits vor Wochen die Kliniken aufgefordert, solche Operationen zu streichen. Um Raum und Kapazitäten für Corona-Patienten freizumachen.
Doch gerade solche Eingriffe sind vor allem für private Kliniken lukrativ.
"Endlich die Augen öffnen"
Mediziner berichten, dass sie sich durch ihre Klinikleitung unzureichend vorbereitet fühlen, dass es "zu wenige konkrete" Notfallpläne gebe.
Eine Fachärztin sagt, sie habe in ihrer Abteilung noch vor kurzem vorgeschlagen, Ärzte-Teams zu bilden, die unabhängig voneinander im Einsatz sind. Damit im schlimmsten Fall nicht alle auf einmal krank sind.
"Da haben einige Kollegen mit den Augen gerollt", erzählt sie. „Von Panikmache war da die Rede."
Das ist inzwischen vorbei. Doch nicht jeder habe den Ernst der Lage erkannt, klagte am Freitag auch RKI-Chef Lothar Wieler.
Diese Menschen forderte er auf: "endlich die Augen zu öffnen".
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