Als ich kürzlich, völlig überraschend, einen alten Bekannten wieder getroffen habe, hat er mir als erstes von seiner Tochter erzählt. Er war hörbar stolz. Aber auch ein bisschen gestresst: Sie sei jetzt nämlich bald aus dem Kindergartenalter raus. "Nächstes Jahr", sagte er, "kommt sie in die Schule."
Wow, sagte ich und wollte ihm damit signalisieren, dass ich schon weiß, dass das für Kinder und Eltern eine Herausforderung sein kann. Weil ich aber nicht zu ernst rüberkommen wollte, machte ich diesen Witz: "Dann hoffe ich aber", sagte ich, "dass sie schon lesen und schreiben kann! Und ein bisschen Englisch wäre sicher auch nicht schlecht …"
Er sah mich an. Ich sah ihn an. Aber ihm war nicht zum Lachen.
"Du hast ja keine Ahnung", sagte er: "Das mit dem Druck geht heute im Kindergarten schon los. Da geht’s nicht nur ums Zusammensein. Oder ums Spielen. Da gibt’s Eltern, die wollen Ergebnisse sehen! Und die können unausstehlich werden, wenn sie merken, dass nicht alle so drauf sind wie sie."
Laurent Simons (9) - Akademisches Wunderkind aus den Niederlanden
An die Unterhaltung mit Uwe musste ich denken, als ich jetzt die Geschichte des neunjährigen Laurent Simons las: Das Wunderkind aus Amsterdam muss gerade auslöffeln, was seine überambitionierten Eltern ihm eingebrockt haben.
Ich meine: Niemand kann mir erzählen, dass Eltern ihr Kind mit neun (!) auf eine Hochschule schicken müssen, damit es dort Elektrotechnik studiert und sei es noch so begabt.
Der kleine Laurent tut mir leid, denn es gibt doch wirklich so viele andere schöne und spannende Dinge, die mehr mit Kindheit zu tun haben als Elektrotechnik, von denen er nicht weiß, dass es sie gibt, und die er vielleicht nie kennenlernen wird, wenn er erst mal sein Examen hat und die Tech-Konzerne sich um ihn reißen.
Den Gipfel aber finde ich, dass es Laurents Eltern mit dem Studium offenbar nicht schnell genug ging. Der Bub hätte nur noch ein paar Prüfungen ablegen müssen. Mitte 2020, sagen seine Professoren von der TU in Eindhoven, wäre er mit allem durch gewesen. Aber weil er heuer noch zehn wird und seine Eltern wollten, dass er vorher seinen Bachelor macht, legten sie sich mit der Uni an, machten Rabatz, stritten sich. Mit dem Ergebnis ist, dass Laurent sein Studium vorerst abbrechen musste.
Der arme Junge! Dachte ich mir. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir diese neue, extrem fürsorgliche und deshalb oft überbehütende Elterngeneration schon länger suspekt.
Wenn Fußball-Moms den neuen Messi sehen
Ich kann gar nicht zusehen, wie sie sich ans Optimieren ihrer Kinder macht als ginge es ums Aufhübschen eines Instagram-Accounts. Und verglichen mit diesen "modernen Eltern" kommt mir mein eigener Vater, im Nachhinein, fast schon cool vor.
Als ihm auffiel, dass ich leidlich kicken konnte (woran er nicht ganz unschuldig war), stellte er mich vor die Wahl: "Du kannst dich", sagte er, "für den Fußball entscheiden oder fürs Gymnasium. Beides wird nicht gehen." Die Entscheidung überließ er mir.
Heute stehen schon bei Bambini-Begegnungen traubenweise Eltern am Spielfeldrand, die jede Bewegung, jeden Ballkontakt ihrer Sprösslinge auf Anflüge von Genialität checken - auch wenn die Kinder wie tapsige Welpen über den Rasen stolpern und, völlig altersadäquat, keinerlei Spielidee erkennen lassen außer einem Haufen Spaß. Läuft ein Spiel mal gegen den eigenen Sohn oder die Tochter, fangen solche Eltern schon mal an zu toben. Gegenspieler werden beschimpft, Schiedsrichter beleidigt und, manchmal, tätlich angegriffen.
Ums Kindeswohl, denke ich, geht’s dabei eher nicht.
Aber vielleicht bin ich da ja zu sensibel.
Ich hab’ ja auch um Greta Thunberg Angst
Die 16-jährige Klimaaktivistin und "Fridays for Future"-Erfinderin Greta Thunberg kann mittlerweile ohne Security keinen Schritt mehr tun. Journalisten und Fans kleben an ihr. Und die rücksichtslosesten, machtbesoffensten Egozentriker des Planeten wie Donald Trump oder Brasiliens Präsident Jair Bolsonara schleudern ihr ihre Wut entgegen - einem Teenager, nur weil der ihnen politisch in die Quere kommt.
Wo, frage ich mich, sind eigentlich Greta Thunbergs Eltern?
Ich hoffe, sie denken nicht nur darüber nach, wie sich der Ruhm ihrer Tochter, die vergangene Woche vom "Time Magazine" zur "Person des Jahres" gekürt wurde, noch mehren lässt.
Oder was sonst noch alles in ihr steckt.
P.S.: Mit Uwe war es dann doch noch ganz nett. Er erzählte, wie er seine Tochter mit fünf zum Balletttanz schickte, weil sie das wollte. Nach einem halben Jahr hätte sie dann plötzlich keine Lust mehr gehabt. "Aber neulich tanzte sie so auffällig-unauffällig durchs Wohnzimmer, da habe ich sie gefragt. Sie hat gesagt, dass sie eigentlich schon ganz gern wieder ins Ballett gehen würde. Da haben wir die Spitzenschuhe wieder ausgepackt."
So, dachte ich mir, geht das also auch.
Hermann Weiß ist freier Autor. Er hat (u.a.) für die "Abendzeitung" geschrieben, war Kulturredakteur im Münchner "Welt"-Büro. In "Mittlere Reife", seiner wöchentlichen Kolumne auf wize.life, nimmt er sich Alltags- und Zeitgeistphänomene vor und macht sich darauf seinen ganz persönlichen Reim.
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