Wenn Sie öfter diese Kolumne lesen, wissen Sie: Ich bin 62.
Das finde ich jetzt nicht supertoll. Aber ich gehe offen damit um. Und was es sonst zu sagen gibt, kennen Sie schon, wenn Sie Leute meines Alters in ihrem Bekanntenkreis haben: Nämlich, dass ich mich "im Kopf" wie 35 fühle.
Na gut, sagen wir: wie 45!
Weil: Bei den Zumutungen, die das Leben für die heute 35-Jährigen bereithält - vom permanenten Zwang zur Selbstoptimierung bis zur langsam aufziehenden Klimakatastrophe - würde ich sicher nicht noch einmal so jung sein wollen.
Ich hätte weder Lust auf eine unbefristete Praktikanten-Existenz noch auf vegan kochen mit Freunden.
Und dass viele Thirtysomethings neuerdings wieder dieses konventionelle Familiending leben, mit möglichst vielen Kindern und freundlicher Unterstützung von Papi und Mami, ist mir suspekt.
Eins aber hat man nun mal, wenn man 35 ist: Dass man einfach nur nach vorne guckt.
Und das gefällt mir! Wirklich! Gut!
Es ist mir sympathischer als dieses Älter-und-Weiser-Geschwurbel, das Gewese um irgendwelches Erfahrungswissen und das eifrige Verklären der eigenen Vergangenheit, mit dem Leute meines Alters mir immer öfter auf die Nerven gehen.
Wann fängt man an zurückzuschauen?
Mittlerweile frage ich mich, ob es eigentlich ein Gesetz gibt - so eins wie das mit der Schwerkraft zum Beispiel - das dazu führt, dass man ab einem gewissen Moment lieber zurückschaut als nach vorn.
Gibt es, nur mal so zum Beispiel, eine Regel, nach der man sich alle Jahre wieder zum Klassentreffen verabreden muss? Wobei: Verabreden ginge ja noch! Meistens wird einem in solchen Fällen ja eher die Pistole auf die Brust gesetzt.
Irgendeinen, der schon mit 20 überzeugt war, dass er seine innere Mitte gefunden hat, gibt es immer, der so was nicht nur begeistert organisiert, sondern auch alle Spielarten der Erpressung beherrscht von "Aber ohne dich kann ich mir das gar nicht vorstellen!" über "Hast du nicht immer auf die … gestanden?" bis "Sind wir dir denn gar nichts mehr wert? Das fände ich jetzt aber schade, du! Wie soll ich das den Anderen erklären?"
Die Fragen der Anderen
Tja, die Anderen! Ab und zu sieht man sie dann ja doch. Und natürlich spulen sie bei solchen Gelegenheiten zuverlässig genau das Alptraum-Repertoire ab, wegen dem ich Klassentreffen meide und auch sonst allen Arten von Wiederbelebungsversuchen vermeintlicher oder verblichener Freundschaften nichts abgewinnen kann:
"Gut schaust du aus! Aber hattest du nicht ein kantigeres Gesicht?" "Also ich hab’ ja schon in Aktien investiert, da hast du noch 'Das Kapital' gelesen, oder, hoho!" "Und von so einem Job als Autor kann man echt leben? Das hätt’ ich nicht gedacht!"
Ich will jetzt niemanden erschrecken und es muss sich, um Himmels willen, auch keiner ein Vorbild nehmen an dem, was ich gleich sage, aber: Ich hab' in meinem Leben schon immer lieber nach vorn als zurückgeschaut.
Ich lass die Erinnerungen da, wo sie hingehören, backstage irgendwo.
Ich habe ein- oder zwei Mal in meinem Leben jemanden gegoogelt, weil mich interessiert hat, was der- oder diejenige jetzt macht und ich würde das (aus mancherlei Gründen) nicht wieder tun.
Auch Facebook war für mich nie ein Thema: Erstens, weil ich glaube, dass es da in der Kommunikation wie in allen Sozialen Medien ein Nähe-Distanz-Problem gibt. Ich mag nicht, wenn mir Leute mit ihren Freundschaftsanfragen auf die Pelle rücken, weil ich mir nämlich - zweitens - meine Freunde im wirklichen Leben suche. Immer noch. Und immer wieder. Gern.
Gespenster der Vergangenheit
Natürlich kann auch ich nicht verhindern, dass gelegentlich Gespenster aus der Vergangenheit an meine Tür klopfen - irgendjemand hat immer deine Handynummer. Zuletzt wollte derjenige schon mal im Vorhinein, per SMS, die Themen für unser "hoffentlich baldiges" Treffen verhandeln. Na, denk ich mir in solchen Fällen, das kann ja heiter werden!
Ein bisschen erschreckt - und auch peinlich berührt - hat mich allerdings neulich ein Text, in dem es darum ging, dass die Fans von Rod Stewart (75) schon vor Erwartung mit den Füßen scharren, weil der Sänger 2020 wieder tourt. Auch Paul McCartney (77), Eric Clapton (74) und andere Untote des Rock würden für ein paar Konzerte nach Deutschland kommen.
Frustriert bei den Pretenders
Da ist mir wieder eingefallen, wie ich selbst vor ein paar Jahren zu Chrissie Hynde und den Pretenders gegangen bin, klopfenden Herzens, und wie sehr ich damals in Hamburg gelitten habe.
Nichts war so, wie es einmal war - und wie ich dachte, dass es wieder sein müsste.
Ich bin einfach kein sentimentaler Typ.
Und ich hoffe inständig, dass auch nie einer aus mir wird.
Hermann Weiß ist freier Autor. Er hat (u.a.) für die "Abendzeitung" geschrieben, war Kulturredakteur im Münchner "Welt"-Büro. In "Mittlere Reife", seiner wöchentlichen Kolumne auf wize.life, nimmt er sich Alltags- und Zeitgeistphänomene vor und macht sich darauf seinen ganz persönlichen Reim.
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